Zuschauerglück
Bewegungsunfähig und allein befand er sich in einem Innenhof, die Füße in einem blauen Eimer. Der Zement, der bis kurz unterhalb seiner Knie reichte war erst feucht und warm, dann hart und kalt geworden, ohne dass er sich daran erinnern konnte. Er saß auf einem Plastikhocker mit zu kurzer Lehne, seine Hände waren auf dem Rücken überkreuz zusammengebunden, wie bei einem kindlichen Verbrecherspiel, nur strammer. Der Hof war an drei Seiten von unverputzten fensterlosen Wänden begrenzt. Ihm gegenüber befand sich ein Maschendrahtzaun und dahinter ein weites Feld.
Er wusste nicht, wie er in diese Situation gekommen war, wirkte aber nicht beunruhigt. In den letzten Jahren war er vergesslich geworden, dazu kamen Konzentrationsprobleme und Schwierigkeiten, Personen und Dinge zu benennen. Er versuchte diese Einschränkungen zu überspielen, ohne großen Erfolg. Mit der Zeit gewöhnten sich alle, bis auf ihn, an diese Schwächen und lernten damit umzugehen. Eine medizinische Untersuchung lehnte er ab. Das Ende seines Arbeitslebens war absehbar und dann würde sich alles weitere fügen und neu ordnen.
Andere Menschen hätte eine solche Situation in panische Angst versetzt, sie hätten zwanghaft nach einer Erklärung gesucht, um Hilfe geschrien, vielleicht aufgrund der Ausweglosigkeit ihrer Lage letztendlich resigniert. Ihm schien bei genauer Betrachtung der Umstand, hier zu sitzen, ein Privileg. Im Büro würde er sich heute nicht am Schreibtisch langweilen, keine immer gleichen Dialoge führen, nicht bei virtuellen Meetings in ausdruckslose Gesichter schauen. Seine Frau würde den von ihm befreiten Tag genießen, sein Sohn die Abwesenheit erst bei erschöpftem Akku der digitalen Geräte bemerken.
Er hörte ein Poltern, konnte es aber keiner Richtung zuordnen. Ein Ball krachte gegen den Zaun und rüttelte an der in der Mitte eingelassenen Tür. Ein Junge kam zum Vorschein, der die Metalltür aufstieß und jemandem winkte. Dann drängte sich ein ganzes Rudel weiterer Kinder in den Innenhof. Sie rangelten um den Ball, schossen auf die gegenüber liegenden Wände, an denen schemenhaft mit Kreide markierte Tore sichtbar wurden. Sie nahmen ihn nicht wahr, dribbelten um ihn herum, keuchten und fluchten, lachten und freuten sich, wenn sie sich ausspielten oder ein Tor erzielten.
Die Selbstvergessenheit und Ausgelassenheit der spielenden Kinder beglückte ihn. Er kommentierte ihr Treiben, ohne dass sie Notiz davon nahmen. Der Ball traf ihn mehrmals, erst an den Beinen, dann an der Schulter, schließlich sogar im Gesicht. Er amüsierte sich dabei und zählte die Tore. Nach einer Weile blieb ein Junge vor ihm stehen und sah ihn an. Warum er hier auf ihrem Spielfeld saß, wollte er wissen. Er sei ein Hindernis, konnte offensichtlich nicht mitspielen, vielleicht würde er den Schiedsrichter machen wollen. Die anderen Kinder kamen dazu, schenkten ihm keine Beachtung, versuchten Kunststücke mit dem Ball. Er schaute sie freundlich an und willigte ein. Mehr wusste er nicht zu sagen.
Der karge, staubige Boden ließ ihn an Zuhause denken. Dort warteten vertrocknete Beete und ungemähter Rasen. Kaminholz musste gehackt und trocken gelagert werden. Ein Dachbodenfenster war undicht und der Jahresbericht für den Tierschutzverein konnte nicht weiter aufgeschoben werden. Dinge, die seiner Aufmerksamkeit bedurften, stapelten sich auf imaginären Haufen. Je mehr ihm einfiel, desto klarer wurde das Bild vor seinen Augen, wie weit entfernt diese Alltäglichkeiten jetzt waren.
Nach einer Weile trat ein anderer Junge vor ihn. Er wirkte erschöpft und holte einen kleinen Stapel Sammelkarten aus der Hose. Er könnte vielleicht darauf aufpassen, bevor er sie beim Spielen verlieren würde. Es waren Dubletten, die er tauschen wollte, um sein Sammelalbum voll zu bekommen. Er war sechs, maximal acht Jahre, und wartete nicht auf eine Antwort, sondern legte die Karten auf seinen Schoß und lief zurück zu den anderen. Auf der obersten Karte glänzte eine Fantasiefigur mit düsterem Blick und bezifferten Eigenschaften.
Die Szene im Innenhof fühlte sich für ihn an, als hätte sie einen höheren Sinn. Er wollte sie nicht beeinflussen, auflösen oder sich seine Hilflosigkeit eingestehen. Die Dämmerung setzte ein und der Himmel verfärbte sich in warmen Farbtönen, dann wurde die Luft kälter. Das hatte er eine Ewigkeit nicht mehr beobachtet, fast schien es ihm das erste Mal. Die Kinder gingen langsam zur Tür und redeten ohne Unterbrechung. Sie müssten gleich los, rief einer und wären morgen wieder da. Wenn er Lust hätte, könnte er dann wieder mitmachen. Der Junge holte seine Karten, schaute die oberste kurz an und steckte sie dann wie eine Belohnung in die Brusttasche des Schiedsrichters. Für die Kinder gehörte er jetzt dazu und doch war er ganz anders. Ein Erwachsener aus einer anderen Welt mit eigenen Regeln, zu denen auch Unerklärliches und Merkwürdiges gehörte.
Die Schlichtheit seiner Umgebung empfand er als schön, in Kürze würde sie von der Dunkelheit verschluckt werden. Er fühlte sich einsam und begann einzelne zufällige Wörter zu sprechen. Erst leise und unsicher, dann lauter, wie eine verzweifelte Gegenrede. Nach einigen Minuten wurden seine Sätze formaler, er verkündete Allgemeinwissen, Dinge, die er wusste und mitteilen wollte. Dann imitierte er einen Nachrichtensprecher, berichtete von politischen Ereignissen, den Schwankungen der Börse, prophezeite ein Sturmtief für die nächsten Tage. Zuletzt informierte er in einer Sondermeldung über das Verschwinden einer angesehenen Person.
Der Tag hatte ihn erschöpft und er schloss die Augen. Er war fast eingeschlafen, als er ein Motorengeräusch hörte. Vor dem Zaun befanden sich zwei Personen, die durch die Scheinwerfer eines Autos zu Silhouetten wurden. Er hatte keinen Zweifel, dass sie einen Auftrag hatten und er Teil der Ausführung war. Dass er mit den Beinen feststeckte, verhinderte nicht nur sein Davonlaufen , es würde jetzt seinen wahrhaftigen Zweck entfalten. Das Bild seiner selbst erschien vor ihm, wie er als Kind die Luft anhielt, um das erste Mal zu tauchen. Das unscharfe Sehen unter Wasser, das zielstrebige Auftauchen zum Licht, gefolgt vom befreiten Schnappen nach Luft.
Eine Taschenlampe leuchtete ihm ins Gesicht, gleißend helles Licht. Einer der Männer näherte sich ihm und zog ihm die Sammelkarte aus der Hemdtasche. Er verglich sie mit einer Karte in der anderen Hand und tauschte sie aus, als wäre sie, wie der unbewegliche Mann vor ihm, in einer Welt überflüssig, in einer anderen aber von Nöten. Dann hoben sie ihn auf eine Schubkarre und steuerten mit ihm zum Lieferwagen. Auf der Ladefläche fand sich allerlei Gerümpel, seinem unaufgeräumten Hobbykeller nicht unähnlich. Den Boden machten sie an einer Ecke frei und kippten ihn auf die verdreckte Ebene. Die liegende Position war eine Wohltat, die Aussicht konnte besser sein. Er dachte daran, selbst ein Sammelobjekt zu sein, eine Serie zu vervollständigen, keine Seltenheit, sondern eher Durchschnitt. Dann schlug die Flügeltür zu und sie fuhren mit eingeschaltetem Radio los, das eine fröhliche Melodie dumpf durch die Trennwand zur Fahrerkabine wiedergab.
Er dachte an die vergangenen Stunden und die Unmöglichkeit, sie zu rekonstruieren. An seine Zurückhaltung, die Kinder mit Fragen nicht aufzuschrecken, durch Schreie keine Aufmerksamkeit zu erregen, die Männer nicht nach dem Geschehenen oder ihrem Vorhaben zu befragen. Hatte er alles vergessen, was passiert war oder hatte ihn jemand seiner Erinnerung beraubt? War er ein Opfer, das seine Unschuld nicht beweisen konnte oder ein abscheulicher Täter, der jetzt seiner Strafe zugeführt wurde? Es war zu spät, das alles zu klären, einer Antwort zu vertrauen. Der Laderaum hatte kein Fenster und er wünschte sich, nochmal den Himmel und die Sterne zu sehen, bevor er auf den Grund irgendeines Gewässers sinken würde. So konnte er, trotz aller Ungewissheit, die ganze Weite zwischen diesen beiden Extremen geniessen, zwischen denen er sein ganzes Leben verbracht hatte und die ihm beide noch vor kurzer Zeit unerreichbar schienen.