Vorgärten
Ein Notruf geht in der Leitstelle ein, ein verbrannter Kuchen wird aus dem Ofen genommen, ein stechender Schmerz kündigt die Blutung aus einem Magenulkus an. Einen Augenblick später, während Wäsche sauber und unschuldig im Wind der Hintergärten flattert, durchdringt ein Rettungswagen mit lauter Sirene und hohem Tempo den fast zur Ruhe gekommenen Spätnachmittag einer Vorstadtsiedlung.
Ein Junge liegt ungelenk auf dem Absatz vor der Haustür und bewegt sich nicht. Jonas, sein älterer Bruder, hat im ersten Stock des Eigenheimes nichts gehört, ganz im Gegenteil, es war verdächtig ruhig gewesen. Er lehnt sich über seinen Schreibtisch zum Fenster, da die Überdachung vor der Eingangstür seine Sicht erschwert. Um nach unten zu kommen, hat sein Bruder scheinbar die Abkürzung durch das Giebelfenster genommen, ist über den Sims an der Fassade entlang bis zum Vordach geklettert und von dort seitlich in die Beete gesprungen. Das war wohl zumindest der Plan, um aus dem Obergeschoss unbemerkt in Freiheit zu kommen.
Das Entsetzen des Ältesten hält sich in Grenzen. Weil die Mutter nicht da ist, hat es keine Not gegeben, die Abkürzung zu benutzen. Geschrei hat er nicht vernommen, von der Schwester ist nichts zu sehen. Jonas schaut auf den Schreibtisch, das Referat für Deutsch muss noch erledigt werden. In einer halben Stunde kommt ein Freund, dann werden Avatare gemeinsam mit ergonomisch geformten Steuerknüppeln durch digitale Welten geführt. Tatsächlich erscheint Jonas die Szene vor dem Haus wie eine Inszenierung: zu viele Ungereimtheiten, ein schlechter Zeitpunkt, eine trügerische Ruhe.
Das Kindermädchen hat kurzfristig abgesagt, was sich längerfristig angebahnt hatte, da die Zwillinge sie nicht mögen und respektlos behandeln. Die Mutter hat das mit der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit einer pubertierende Göre abgetan und kurzerhand Jonas die Verantwortung für die Geschwister übertragen. Der erhebt sich jetzt widerwillig von seinem Schreibtisch, blickt kurz auf die wuseligen Figuren, die er im Unterricht auf die Seitenränder seiner Hefte kritzelt, und die ihn jetzt bei den Hausaufgaben stören. Dann geht er nach unten.
Papa ist Polizist und liebt seine Arbeit. Die Familie ist mit Verbrechen aufgewachsen, verschlingt Polizeifilme und Detektivserien, hat eine beträchtliche Sammlung an Kriminalromanen, spielt regelmäßig Szenen ungelöster Fälle nach. Dazu gehört eine Mischung aus Gerissenheit und Theatralik, die der kindlichen Fantasie mit Leichtigkeit entspringt, aber den Erwachsenen im Laufe der Jahre abhanden gekommen ist. Beim Gang nach unten wirft Jonas beiläufig einen kontrollierenden Blick in das Zimmer seiner Schwester, den ein zerknitterter brauner Gaul auf der seitlichen Wand ihres Kleiderschrankes erwidert. Hier ist sie nicht.
Im Rettungswagen befindet sich die unglückliche Kombination eines Nörglers und eines Novizen, die der Zufallsmodus einer Software zur Dienstplanerstellung zusammengeführt hat. Der Einsatz führt sie zu einer nicht ansprechbaren Person und wird auf Wunsch des routinierten Beifahrers begleitet von lauter, klassischer Musik. Der noch unerfahrene Kollege rast mit hoher Geschwindigkeit durch die gut ausgebauten Straßen der Neubausiedlungen, in einer Mischung aus Anspannung und Vorfreude, das Erlernte schnellstmöglich anwenden zu können.
Während Jonas die Haustür leise öffnet, spielt er unterschiedliche Möglichkeiten von Ereignissen und Wahrscheinlichkeiten durch. Dabei wird ihm klar, sein Bruder hat ihn nach unten locken wollen und die verschwundene Zwillingsschwester ist Teil des Planes. Sie ist eine Unscheinbare, hat nie eine Meinung, kann anwesend sein und doch unsichtbar, ist manipulierbar, in ihrer Naivität nie zur Verantwortung zu ziehen. Jonas geht leise über den abgewetzten grünen Teppich im Eingangsbereich, schaut ins Esszimmer, bewegte die schweren Vorhänge an der Fensterfront zur Terrasse. Nichts. Dann kehrt er langsam zurück zum Eingang und schaut durch den Türspalt nach draußen.
Die Mutter hat eine Sammelsurium an Gründen genannt, warum sie am Nachmittag nicht da ist und erst am späteren Abend zurückkehrt. Jonas denkt, sie hat ein Date. In der Küche hat sie ein Blech mit Pizza vorbereitet und Anweisungen auf einen Zettel geschrieben. Nach dem Essen soll Jonas die Zwillinge ins Bett bringen und darf bis 21 Uhr fernsehen. Pflichten, die man wie selbstverständlich erlernt, Belohnungen, die man mitnimmt.
Ben liegt noch immer in verschränkter Position auf dem Absatz, um seinen Kopf wirken die Pflastersteine etwas dunkler. Eine schwarze, abgehalfterte Katze aus der Nachbarschaft schleicht über den Rasen, scheint ihn gar nicht zu bemerken oder ist gelangweilt von dem absurden Spektakel. Die Dämmerung hat schon eingesetzt, es gibt nur wenig Licht im Vorgarten. An der linken seitlichen Grundstücksgrenze befindet sich ein Reihe von Rhododendronsträuchern unmittelbar vor einem Zaun. Dort steht manchmal Papa und beobachtet sie, ohne dass die Kinder ihn verraten. Nach der Trennung der Eltern hat er ein Kontaktverbot bekommen, an das er sich leidlich hält. Einhundert Meter ist die vorgeschrieben Grenze und das bedeutet außerhalb des Grundstückes, vom dem ihm ein Teil noch gehört. In diesem Moment wäre seine Anwesenheit hilfreich, denkt Jonas, in anderen vielleicht auch, in vielen aber auch nicht. Seit seinem Auszug hat er zugenommen, er sieht ungepflegt aus, kommt nur noch selten vorbei. Mama sagt, dass er permanent eine Fahne hat, aber die Kinder haben sie nie gesehen.
Obwohl die Schwester unentdeckt bleibt, muss sie ganz in der Nähe sein. Lisa und Ben sind Kraft der Natur unzertrennlich und führen einen erbarmungslosen Kampf mit der Außenwelt um ihre Bedürfnisse und Interessen. Ben hat eine ursprüngliche Beziehung zu seiner Umwelt, ist neugierig, konfrontativ, mit ihm ist alles Erleben wirklicher. Am Abend kann man die Spuren seines Existenzkampfes begutachten, sein bis zur Unkenntlichkeit verschmiertes Gesicht, den Geruch unterschiedlicher Körpersekrete, an ihm klebende Reste aus dem Tier- und Pflanzenreich. Kein Junge aus der Nachbarschaft, mit dem er sich noch nicht geprügelt hat, kein irdischer Streit oder kosmisches Gefecht, das in seinem Spielzimmer noch nicht Realität geworden ist.
Für Jonas sieht es so aus, als hätte sich Ben geringfügig bewegt. In der Entfernung ist eine Krankenwagensirene zu hören, auf der anderen Straßenseite hält ein Auto. Jonas geht auf seinen Bruder zu und in diesem Moment hört er die Haustür zuschlagen, gefolgt vom Scharren der Verriegelung. Lisas Silhouette ist durch den verblendeten Glaseinsatz der Tür im Hausflur kurz zu sehen. Sie winkt, bewegt sich ruckartig, hat es eilig. Instinktiv macht Jonas einen Schritt auf das Haus zu, nur um im selben Moment zu merken, wie Ben hochschnellt und Richtung Garage läuft. Da das Tor geschlossen ist, muss sein Ziel die Seitentür sein, an der jetzt Lisa auftaucht. Sie hält die Tür einen Spalt offen, bereit, sie nach Ankunft ihres biologischen Gegenstückes vor Jonas zuzuschlagen. Dieser realisiert, dass er den Rest des Tages draußen verbringen wird, ausgesperrt von seinen jüngeren Geschwistern.
Ben hat die Athletik seines älteren Bruders unterschätzt und die Genialität seines Planes überbewertet. Nach wenigen Metern ist ihm klar, dass er die Tür nicht rechtzeitig erreichen wird, um seinen Verfolger abzuhängen. Kurzerhand entscheidet er sich eine Extrarunde durch den Vorgarten zu drehen. Dafür umkurvt er ein Kettcar, einen Rotdorn und überspringt verschiedene auf dem Rasen verstreute Spielgeräte. Jonas drosselt das Tempo und schaut sich das Schauspiel an. Wie eine wild gewordene Kakerlake rennt Ben um sein Leben, will seinen Plan retten, Zeit gewinnen.
In diesem Moment surrt Jonas´ Handy in der Hosentasche. Es wird der Kontrollanruf der Mutter sein, ob alles in Ordnung ist, sie sich vertragen. Die Zwillinge dürfen, wenn sie sich benehmen, heute etwas später ins Bett gehen, Jonas soll ihnen noch eine Geschichte vorlesen. Auf der anderen Seite der Straße geht die Laternenbeleuchtung an, in der Einfahrt hält ein Auto mit Jonas´ Spielkameraden im Font. Der Krankenwagen biegt rasant in die Straße ein und das blinkende Blaulicht reflektiert stumm in den verglasten Vordächern, Autospiegeln und Fensterscheiben der Siedlung, als hätten alle ein Anrecht, es mehrfach zu sehen.
Ben erreicht die Straße. Eine hartnäckige Bürgerinitiative hat sich bei der Erschließung des Neubaugebietes gegen die Errichtung von Bürgersteigen ausgesprochen. Dafür hat die Straße an beiden Seiten eine farblich markierte Fläche für Fußgänger, die nicht von der Fahrbahn getrennt ist. Die flinken Beine des Zwillingsbruders sind getrieben von Flucht und Spiel, er trifft in einem Bogen seitlich auf diese Fläche und es bleibt unklar, ob seine Geschwindigkeit, die Fliehkraft oder eine spontane Idee, die ihn plötzlich überkommt, letztendlich zum Übertreten der Markierung führen und durch einem dumpfen Knall unerwartet Ruhe in das Durcheinander kommt.
Die mit einem roten Kreuz beklebten Türen der Fahrerkabine schwingen auf, ein Radfahrer hält an und lässt sein Fahrrad fallen, das Handy vibriert noch immer vergeblich. Lisa steht bewegungslos neben der im Wind vor- und zurückpendelnden Tür, einem anderen Kind schwindet die Vorfreude aus dem Gesicht und immerfort neugierige Nachbarsaugen haben endlich einen Grund zu schauen. Aus dem Autoradio dröhnt Musik und gibt den Ereignissen einen Takt, versucht sie zu ordnen. Die herbeieilende Hilfe hat alle Hände voll zu tun und die letzten Sonnenstrahlen bieten ihre Unterstützung dafür an, bevor der dunkle Vorhang der Nacht die alte Welt ein letztes Mal bedeckt und Jonas schließlich wortlos das Gespräch annimmt.