Aeronauten

 
 
 
 
 
 

Friedlich liegt die Wiese vor ihnen und genießt die Sonne, in der Mitte ein kleines Hindernis, umgeben von einer Stoffmasse. Früh sind Sara und Tim aufgestanden, die Morgenluft kitzelt in ihren Gesichtern. Bäume eines Mischwaldes begrenzen die Fläche wie stumme Zeugen der Zeitgeschichte. Mit verschlafenen Augen sehen die beiden, wie reißfestes Gewebe durch einströmendes Gas erwacht, sich langsam aufstellt. Nach kurzer Zeit ist ein Ballon entstanden, der wie ein auf dem Kopf stehender Regentropfen aussieht, darunter eine Auffangschale.

Die Höhe ist für Sara Magie, oben ist Befreiung, alles wird erreichbar. Ein kräftiger Mann zieht Seile und macht Knoten, winkt ihnen aus der Entfernung zu. Saras Geburtstag ist lange vergangen, das Geschenk ist heute die Gegenwart. Sie nimmt den Gutschein aus der Tasche, entfaltet ihn, ein Kindheitstraum steht kurz vor der Erfüllung. Staunend schaut sie auf das Material am Boden und das Nichts im Himmel, malt sich ihr Zusammenkommen aus. Stimmen im Hintergrund holen sie zurück. Sie stellt sich die bevorstehende Aussicht als Gefühl der Erhabenheit vor und gleichzeitig auch als Voyeurismus. Die Errungenschaften und das Scheitern ahnungsloser Menschen in der Gesamtsicht von oben.

Tim ist die Höhe nicht geheuer, Sara zuliebe ist er mitgekommen. Auf einem halben Meter tippelt er vor und zurück, knibbelt dabei an den Spitzen seiner zarten Finger. Mit sanftem Druck schiebt Sara ihn zum Start. Der Ballon ist prall gefüllt, schaut in Regenbogenfarben auf sie herab. „Für Paare ist es besonders schön“, lächelt der Pilot. Den Gutschein reißt er mittig ein und Sara verstaut ihn wie eine Beschlusssache. Dann klettern sie über eine kleine Leiter in das rechteckige Behältnis, geben sich gegenseitig Hilfestellung. Für Sarah fühlt es sich wie Abschied an. Die Taue werden gelöst, das Korbgeflecht schwankt und sanft erhebt sich das Gebilde, was sich für Sara wie Abschied anfühlt.

Mit ausgestreckten Armen steht sie vorne im Korb, als könne sie die Freiheit umarmen. Unter ihnen ziehen Straßen und Stadtviertel als Linien und Quader vorbei. Erst alles platt machen, dann Straßen nach Vögeln benennen, denkt sie. Tim, auf der gegenüberliegenden Seite, starrt in den vorbeiziehenden Himmel. Fehlende Anhaltspunkte scheinen ihn zu beruhigen. Der Gasbrenner hängt wie ein Rettungsanker mittig über ihnen. Das Zischen bringt Sara ihrem Ziel näher, lässt sie an Weite und Fortschritt denken. Für Tim ist es eine akustische Lebensversicherung.

Im Tagebuch hat Sara auf diesen Tag hingeschrieben. Gefühle wurden zu Wörtern, dann zu Erkenntnissen, schließlich zu einer Entscheidung. Der Ballon gleitet wie eine resolute Diagonale, denkt sie, als würde etwas durchgestrichen oder korrigiert. Tim klammert am Korbrand, bewegt sich in Zentimetern. Um seinen Hals hängt die klobige Kamera seines Vaters, einst angeschafft, Entscheidendes zu verewigen. Durch den Sucher überführt er die Wirklichkeit in ein zweidimensionales Abstraktum. Nach einigen Minuten ist er neben Sara angekommen, Mundwinkel und Kinn zum ewigen Rätsel gekräuselt. Sie konzentriert sich auf die Ferne, steckt ihr flatterndes Haar zusammen. Am Horizont entdeckt sie einen dunklen Fleck in der Form eines Trichters. Eine Rauchwolke, vermutet sie, ohne dazugehörigen Schornstein.

Das Schöne und das Grausame zementieren sich im Bewusstsein, Zeiten und Orte verblassen in der Erinnerung. Was passiert, wenn sie interagieren oder konkurrieren? Muss das Schöne nicht stärker sein als das Grausame? Kann ein Ort oder Erlebnis das eine nicht in das andere überführen? Der Pilot steht am Zug des Gasbrenners, grinst verloren auf ein großes Display in seinen Händen. Eine Kinoleinwand in Taschenformat, denkt Sara, oder ein Online-Spiel mit den am Boden gebliebenen. „Die Zeit kann lang werden hier oben“, erklärt er entfernt, die Augen vom Bildschirm gesteuert. Und so wie er hier ist und doch nicht anwesend, kommt er ihr bekannt vor, wie ein entfernter Onkel oder ehemaliger Kollege. Der im Himmel ein Funknetz braucht, für sein Doppelleben, von dem niemand weiß.

Vor dem Spiegel hat Sara geübt, Tim ins Gesicht zu sprechen. Daß sie in verschiedene Richtungen blicken, um die Aussicht zu genießen, hat sie nicht bedacht. Tief saugt sie die Höhenluft ein, lässt sie wirken und erlöst sich. „Es ist vorbei und Schluss“, stolpert sie los. Tim steht neben ihr, sein rechtes Augenlid zittert. Wie so oft entsteht ein Zweifel, ob er sie verstanden hat. „Wir wissen beide, dass es nicht passt“, fährt sie fort, zuckt unbewusst mit den Schultern, „schon länger.“ Unter ihnen zieht ein Flusslauf vorbei, der die Landschaft willkürlich teilt. Sie vernimmt einen Seufzer, dann ersticktes Wimmern, konzentriert sich auf die Aussicht. Jetzt kommt das Schöne, spürt sie, verscheucht kleine Fliegen aus ihrem Gesicht. Der dunkle Fleck in der Entfernung ist eine schwarze Wolke geworden.

Zahlen verlieren hier oben ihre Bedeutung. Unmöglich, Distanzen zur Erde zu schätzen, unmöglich, zu beziffern, seit wann sie sich kennen. Sara fragt den Piloten, wann sie landen, bekommt keine Antwort. Das Schweben hat seine eigenen Gesetze. Tim wühlt in seinem Rucksack und zieht einen roten Umschlag hervor, darauf ihr Name. Er wendet ihn mehrmals hin und her, legt ihn auf den Korbrand und dreht sich ab. Nach wenigen Sekunden hat der Wind sich entschieden, nimmt ihn mit ins Nichts. „Goodbye“, sagt Sara zu laut, als wolle sie sich ihrer Stimme vergewissern. Unten gleitet eine vertraute, aber nicht wiederzuerkennende Miniaturwelt vorbei. Tim hat sich in die gegenüberliegenden Ecke des Korbes gesetzt. Kopfhörer schimmern zwischen Haarsträhnen hervor, eine Playlist tröstet ihn. Er hat sie fürs Joggen, zum Chillen, fürs Kranksein, den Start ins Wochenende, den Weg zur Arbeit, das Rauchen auf dem Balkon. Lebenslagenmusik.

Scheinbar brennt ein Gebäude, ein Büroturm mit mehreren Stockwerken. Menschen stehen wie arrangierte Figuren auf der obersten Plattform. Saras Hände schwitzen, ihr Hals wird eng. Unbeholfen gleiten sie in ihre Richtung, können ihnen nicht helfen. Rettungsfahrzeuge kriechen wie Würmer durch verstopfte Straßen. Trotz der Entfernung ist das Leid der Menschen greifbar. Flüssigkeit sammelt sich an Saras unteren Lidern. Als wäre sie auserwählt, das Leid der Menschen zu ertragen. Möglich, dass sie einen der in Not geratenen Menschen dort unten kennt. Nicht unwahrscheinlich, dass einer von ihnen besser zu ihr passen würde als Tim. Ist nicht das meiste, was geschieht, Zufall, wundert sie sich. Das Unglück unter ihnen, das Treffen und Verpassen von Menschen, die unbestimmte Route eines Heißluftballons.

Der Pilot hat den Brand bemerkt, steckt sich ein Kaugummi in den Mund. „Die springen gleich auf große Tücher“, ruft er, „ohne Eintritt!“. Dann schaut er zu Tim, der sich in eine Ecke des Korbes zurückgezogen hat. Er hat das Feuer noch nicht bemerkt, ist mit seinem eignen Verhängnis beschäftigt. Fahrig fummelt er am Objektivtubus herum, beginnt den Innenraum zu fotografieren. Erst eine Metallkiste, dann die Knie des Piloten, schließlich einen Nationalparksticker auf seinem Rucksack. Zwischen den Aufnahmen schüttelt er den Kopf und stößt Wörter hervor. „Irrtum“, „Drachen“, hört Sara, dann „Schnapsidee“ und „Witz“. Sie schaut nach unten, das brennende Gebäude gleitet an ihnen vorbei, die dunkle Wolke ist näher gekommen oder einfach gewachsen. Schicksalhaft führt der Wind Rauch und Ballon zusammen. Die Sicht wird trübe, die Augen brennen. „Mund und Nase bedecken!“, hört sie den Piloten.

Die Menschen in Not allein zu lassen, setzt Sara zu. Sie weiß, ihre Bewegung ist passiv, der Korb zu klein, einsteigen während der Fahrt nicht möglich. Der Himmel, der sich wie ein Versprechen vor ihr aufgebaut hat, droht jetzt im Dunkel zu verschwinden. Plötzlich entsteht ein Druck auf ihren Schläfen, ein rhythmischer Kontakt auf ihrem Rücken. Tim ist aufgestanden, steht hinter ihr, berührt sie wie hundert Male zuvor. Ihre Muskeln spannen sich an, ihr Mund wird trocken. Mit einer Drehung befreit sie sich, geht auf die andere Seite des Korbes, der jetzt ein Käfig ist. Ihr Halstuch zieht sie bis unter die Augen. „Durchhalten, ist gleich vorbei!“, hört sie den Piloten. Die Höhe wird oft als Gefahr erlebt, denkt sie, aber das Unglück lauert überall.

Trotz fehlender Sicht spürt sie die Bewegung. Ein flaues Gefühl durchfährt ihren Bauch. In schneller Abfolge ploppen Erinnerungen auf, dazu ein Cocktail aus Empfindungen. Saras Welt beginnt sich zu drehen, führungslos kreisen ihre Gedanken, sind nicht löschbar wie eine Datei. Was macht einen Moment bedeutend, welche Ereignisse erschüttern uns, was bleibt uns im Gedächtnis? Der Himmel klart auf, hat den Kampf gegen den Rauch gewonnen. Sara lehnt sich nach vorne, will das Schöne noch mal genießen. Als könnten sich Luft und Mensch verbinden, ihre Moleküle sich durchmischen und neu ordnen, sie zum wahren Aeronauten werden.

Von hinten ruft der Pilot: „Runter da!“ Sie fährt herum, muss sich für einen Moment in Raum und Zeit orientieren. Tim steht auf dem Korbrand. Er klammert sich an die Seile, zieht an ihnen, wie an einem Steuer. Das Gesicht des Piloten ist ernst. In ihm steht geschrieben, das kein Fahrgast derart Idiotisches bisher getan hat. Warum sollte er springen, fragt Sara sich, betrachtet ihn aufmerksam. Eine Beschwichtigung liegt ihr auf den Lippen. Dann denkt sie, keine nächtlichen Anrufe, kein monatelanges Nachstellen und schämt sich sofort dafür. Der Pilot bewegt sich langsam auf ihn zu. Die Bestimmtheit in Tims Haltung, sein konzentrierter Blick, lässt Sara begreifen: Es geht nicht um sie, sondern um ihn. Es ist der Versuch die Kontrolle zurückzuerlangen und die Vergangenheit zu beschließen.

Unter ihnen ist braune Erde, eine verdorrte Wiese, nimmt Sara an. Der Pilot zerrt an Tims Hose, kriegt sein Bein nicht zu fassen. „Bloß keinen Fehler“ ruft er, lässt offen, was er meint. Tim tritt nach ihm, stößt kraftvoll gegen seinen Hals. Der Korb wackelt, Sara verliert den Halt und landet auf dem Boden des Innenraumes. Mit beiden Armen bedeckt sie ihr Gesicht, will nichts mehr sehen, will ihre Sinne kontrollieren. Der Pilot schaut nach oben, wo sich der Ballon ahnungslos im Luftstrom wiegt. Die Nähe der Erde ist schon spürbar, dann bremst abrupt eine unsichtbare Kraft ihre Bewegung. Sara blickt sich erschrocken um, sieht den Piloten winken, dahinter den wieder erblauten Himmel. Fremde Stimmen erklingen, helfende Hände berühren. Sie wühlt sich durch ein Meer aus Stoff, ihre Beine schwer, als vermissen sie schon die Höhe. Ihr Blick fährt richtungslos im Kreis. Dabei erklingt eine sanfte Melodie in ihren Ohren, fast zeremoniell und sie entdeckt, eine unscharfe Silhouette in der Entfernung, mit Buckel oder Rucksack, immer kleiner werdend Richtung Horizont. Er hat es überstanden, denkt sie, er hat sie überlebt. Und während der feste Boden sie wundersam beruhigt, fragt Sara sich, wie es den Menschen auf dem Hochhaus ergeht. Ob sie gerettet oder befreit werden, ob Heißluftballons für sie jetzt schön oder grausam sind und ob es unter ihnen jemanden gibt, der sich auch schon einmal mit Luft verbunden hat.