Nachtgeister

 
 
 
 
 
 

„Simsalabim“, rufe ich in die Halle, bekomme aber kein Applaus, es ist absolute Stille. Über mir die spärliche Beleuchtung der Fluchtwegzeichen, trostlos von der Decke hängend, als käme jede Hilfe zu spät. Im Dunkeln wird mir bewusst, ich fühle mich allein, bin selbst ein Notfall. Seit Wochen haben Mats und ich uns gestritten, sind uns aus dem Weg gegangen, haben den Groll übereinander konserviert. Ein alterndes Ehepaar würde das überdauern, vermute ich, aber wir sind noch jung, haben unendliche Möglichkeiten im Leben zur Auswahl, können unsere Ansichten und Überzeugungen, Ziele und Orte, unsere Freunde und Partner wechseln oder glauben es zumindest.

Er hatte den Mietvertrag unserer Wohnung unterschrieben, ich brauchte eine Bleibe, vorübergehend. Meine beste Freundin, Marta, hat sich abgesetzt. Zusammen mit ihrem neuen Freund ist sie für eine Woche nach Italien gefahren. Venedig. Sie kennen sich keinen Monat und haben gemacht, was wir in sechs Jahren nicht geschafft haben. Bei anderen Freunden will ich nicht bleiben, unser Zerwürfnis nicht offenbaren. Ein Hotel kann ich mir nicht leisten, will ich mir nicht leisten, denn wie lange wird es dauern und wie wird es weitergehen? Ich brauche einen Platz, wo ich alleine bin und mich keiner stört, am besten kostenlos, um mir Klarheit zu verschaffen.

Meine Wahl fällt auf das größte Gebäude der Stadt. Eine nordische Möbelkette, aus Gewerbegebieten mittelgroßer Städte nicht mehr wegzudenken, soll mir ausreichend Schutz und Kopffreiheit bieten. Tagsüber von Hunderten Menschen durchströmt, nachts ein Ort einsamer Unsichtbarkeit. Am frühen Samstag Abend verpflege ich mich mit Fleischbällchen und Schokopudding im Restaurant. Danach verstecke ich mich im frei konfigurierbaren Schlafzimmerschrank. Das davorstehende Holzbett, die verspiegelten Schranktüren und das aufdringliche Teppichmuster sind abscheulich, aber darum geht es heute nicht. So müssen sich heimliche Liebhaber fühlen, denke ich, als ich im geschlossenen Schrank bis zum Ladenschluss ausharre, wenn der Betrogene unerwartet zuhause hereinplatzt.

Zwanzig Minuten, nachdem das entspannte Familienparadies geschlossen ist, befreie ich mich vom Pressspan und schaue in die Finsternis. Nach einigen Sekunden höre ich in der Ferne ein quietschendes Geräusch, Plastik auf Plastik, das sich glücklicherweise nicht wiederholt. Mit meinem kleinen Rucksack mache ich mich auf zur Matratzenabteilung, nutze die Taschenlampe des Handys und bin überrascht, wie anders der Ort bei Dunkelheit wirkt. Verborgen liegen die bunten Dekorationen und praktischen Lösungen, die jeder braucht, aber niemand vermisst hat, die Alltagssorgen vernebeln und Glücksgefühle gebären. Ein Ort der Lüge und der Wahrheit. In der Küchenabteilung halte ich kurz inne. Zweimal wollten wir uns eine neue Küche kaufen, konnten uns bei den Fronten nicht einigen. Das erspart jetzt die unmögliche Aufteilung. Um es mir später gemütlich zu machen, habe ich eine Dekopflanze aus Holz, ein Kuscheltier und eine Wolldecke eingesammelt. Typisch, höre ich Mats sagen, der nicht hier, aber auch noch nicht weit genug entfernt ist.

Auf dem bepfeilten Parcours durch die verschwundene Ausstellung, höre ich erneut ein Quietschen, diesmal unmittelbar vor mir. Ich zittere, die Synapsen in meinem Hirn feuern. Mit dem falschen Mann kann man sich einlassen, zufälliges Opfer eines nächtlichen Raubüberfalls werden, in der überfüllten U-Bahn die Hand eines Unbekannten auf dem Körper spüren. Alltag eben, denke ich, aber alleine in einem dunklen Möbelhaus eingeschlossen zu sein, um dann festzustellen, das man nicht alleine ist? Ich bewege mich vorsichtig vorwärts, drehe mich um mich selbst, erwarte den Angriff von überall. Nach der dritten Pirouette fällt der Lichtkegel auf eine graue Hose und ausgetretene Turnschuhe etwa zwei Meter vor mir. Ich schreie auf und leuchte in ein Gesicht, das genauso erschrocken aussieht, wie ich mich fühle.

„Was machst du hier?“, fragt mich eine zu hohe männliche Stimme, das Gesicht halb in den Schatten gedreht. Der fehlende Dresscode des globalen Einrichtungshauses lässt ihn gewöhnlich, funktionslos aussehen und ich entgegne forsch: „Und du, was machst du hier?“ „Nicht frech werden“, sagt er, und bewegt sich einige Schritte zurück, um dem Lichtstrahl zu entkommen. „Sicherheitsdienst! Bitte weisen Sie sich aus!“ So sieht also die Security des größten Möbelunternehmens aus. Ausgefranster Overall, umgedrehte Schirmmütze, Hände versenkt in ausgebeulten Taschen. Zögerlich durchwühle ich die Tiefen meines Rucksackes, bis mir einfällt, dass ich den Ausweis absichtlich nicht eingesteckt habe, falls ich entdeckt werden sollte. In entspannter Körperhaltung, die Arme vor dem Körper verschränkt, mit einem Fuß trippelnd, mustert er mich. Gleichzeitig wirkt er abwesend, als suche er nach einer Lösung. „Wollen wir nicht einfach ehrlich sein?“, schlage ich ihm vor und versuche einen Anfang. „Mir fehlt eine Bleibe für die Nacht.“ Er starrt mich an, als wäre das offensichtlich, reiche aber nicht als Erklärung. Dann sagt er: „So siehst du gar nicht aus.“

„Komm mit“, befiehlt er, begleitet von einer ruckartigen Kopfbewegung, die den Weg ins Dunkle weist. Er geht schnell, ich versuche ihm zu folgen, mein Handy vibriert mehrmals in der Jackentasche. Mats hat meine Abwesenheit bemerkt und schickt mir Kurznachrichten, schon über zehn. Als ich da war, gab es nichts zu bereden, jetzt scheinbar um so mehr. Die Hartnäckigkeit fühlt sich nicht gut an. Er rechnet ab, zieht einen Schlussstrich, nehme ich an, widerstehe aber der Versuchung, sie zu lesen. Nach einigen Abbiegungen stoppen wir vor einem ausgezogenen Schlafsofa, das ausgemustert in einer Ecke zwischen Badezimmer- und Wohnzimmerausstellung steht. „Für eine Nacht muss das reichen“, stammelt er hervor. Mein Nachtquartier hatte ich mir anders vorgestellt. Im Alleinsein dieser Nacht träumte ich von unendlichen Möglichkeiten, als würde alles mir gehören. Das Provisorium fühlt sich an wie ein Faustschlag. Das unwillige Zugeständnis, mich für eine Nacht zu ertragen.

„Wie lange arbeitest du schon hier?“, frage ich ihn unverblümt, bin mir unklar, was ich von ihm halten soll. „Seit zwei Jahren“, lügt er mich an und ich spüre, dass er mir nicht vertraut. Er könnte hier ebenfalls Unterschlupf suchen, sich verstecken, womöglich seit längerer Zeit hier wohnen. „Wo ist die Toilette“, frage ich, um das Gespräch nicht abreißen zulassen, bevor etwas geschieht, auf das ich nicht vorbereitet bin. Mit der Taschenlampe scanne ich die Umgebung. Links von mir steht ein schmales Regal, daneben Netzdrahtkörbe mit Handtüchern. Gegenüber lädt ein gelber Ohrensessel mit Hocker zum Ausruhen ein. Ich leuchte weiter nach vorne und sehe ein kleines Badezimmer mit weißer Wandvertäfelung und Toilettenattrappe. Ich könnte es benutzen, denke ich, wird morgen erst auffallen.

Seine knarzenden Turnschuhe nähern sich. Etwas hat sich verändert, in seiner Silhouette erkenne ich Entschlossenheit. „Du bist nicht die Erste, die hier herkommt, nicht die Einzige. Es gibt klare Regeln, jeder muss sich dran halten.“ Klare Regeln sind gut, denke ich, klingen nach Vernunft. Aber was ist mit Gefühlen? Wie fühlt sich jemand, der die Nacht in einem Möbelhaus verbringt, weil er keinen Platz zum Schlafen hat. Jemand, der in ein Gebäude einbricht, um für einen Moment aus seinem verkorksten Leben auszubrechen. Welche Fehler haben diese Menschen gemacht, wo sind sie falsch abgebogen? Oder haben sie einfach nur Pech gehabt? Sind mit unnützen Fähigkeiten ausgestattet oder am falschen Ort zurückgelassen worden?

Vom Gedanken, die Notlage anderer Menschen in ein Regelwerk zu gießen, wird mir mulmig, obwohl es zunehmend überall geschieht. Ohne zu fragen fährt er fort: „Kein Licht, kein Lärm, keine Kontakte. Neben der Warenanlieferung am Tor 3 ist eine Tür. Ab 5 Uhr 30 ist sie offen und du musst gehen“, weist er mich an und deutet geradeaus. Dann faltet er die Hände vor den Bauch und mir fällt auf, dass er Baumwollhandschuhe trägt. Mein Starren beunruhigt ihn. „Wenn alle weg sind, habe ich eine Stunde die Spuren zu beseitigen, richte alles so her, wie es war“, erklärt er. Ein Tatortreiniger, denke ich, und stelle fest, dass er danach auch nicht aussieht.

Die größte Möbelkette der Welt eine Mission. Ich muss an meine Freundin Marta denken unter südlicher Sonne, in den Armen ihres Liebsten. Sie ist nicht auf der Flucht, eher im Ankommen begriffen, wird den richtigen Mann finden, eine Familie gründen. Nichts kann sie aus der Bahn werfen, nichts überlässt sie dem Zufall. Für Brüche bin ich zuständig, ihr Leben ist im glatten Fluss. Vielleicht sind wir deshalb Freundinnen, weil wir so unterschiedlich sind, uns bemitleiden und bewundern. Sein Räuspern holt mich zurück. „Eine Regel gibt es noch“, sagte er und schaut mich eindringlich an. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und wie er so vor mir steht, sehe ich, er passt besser in die nordische Möbelwelt als jedes in Fernost produzierte Produkt. „Alle, die hier übernachten, erzählen ihre Geschichte. Warum sie wirklich hier sind. Im Grünen.“

Wir sitzen im Gartencenter auf der Hollywoodschaukel, umgeben von frisch produziertem Sauerstoff. Ich unterteile mein Leben in Kategorien und lese daraus vor, wie aus dem Inhalt einer Packungsbeilage. Als Landpomeranze gestartet, abenteuerlustig in die Großstadt, abgebrochenes Studium, verschiedene Gelegenheitsjobs. Er schubst die Schaukel ab und zu an, als wolle er mich zum weitererzählen ermuntern, und nach und nach, stoße ich immer mehr Wörter hervor, wie Bröckchen, die sich zu einer Gerölllawine verbinden. Die unglückliche Beziehung, meine Superfreundin, die Unsicherheit, wie es in dieser Welt mit mir weitergehen soll. Ich berichte von meiner Angst vor Höhe und Hunden, wie ich Fahrradfahren lernte und mir dabei den Kiefer brach. Vom kleinen Kind, das ich einmal war, und wie es sich in einer Garage versteckte, Kartons mit altem Spielzeug fand und vor Aufregung nicht mitbekam, wie sich das automatische Tor schloss. In der Dunkelheit stundenlang ausharrte, mit Händen und Füßen die Umgebung erkundete, und schließlich in verwunderte Augen blickte, als sich das Tor wieder öffnete und das Spielzeug nach Größe in Regalen sortiert war. All das erzähle ich und fühle, das ein Bild entsteht, das nur unvollständig sein kann.
„Und warum bist du hier?“, beende ich die Inventur und im selben Moment spüre ich die Unsinnigkeit der Frage. Sollte nicht jeder machen, was er tut? Alle Ungerechtigkeiten für eine Nacht ignorieren, den Hilfsbedürftigen Schutz bieten und über sie wachen.

Abrubt beendet er die Schaukelpartie und steht auf. Er will nicht ausgefragt werden, scheint mir, und ich folge ihm zurück in die Ausstellung. „Nicht alle haben Not“, sagt er. „Manche kommen aus Neugier, andere sind Spaßvögel, schleichen sich ein, um etwas Besonderes zu erleben. In einigen Fällen sind es Mutproben.“ „Und wie siehst du ihnen das an?“ „Man sieht es nicht, man spürt es“, sagte er vieldeutig. „Oft merke ich es sofort. Kompliziert sind die Lügner. Sie winden sich, erzählen abstruse Geschichten, versuchen, Mitleid zu erregen.“ Ich lehne mich an einem großen Gitterkorb, ertaste mit den Fingern etwas weiches, vermutlich Sitzauflagen aus Lammfell. „Dann werfe ich sie raus. Versichere ihnen, dass ich auf eine polizeiliche Anzeige verzichte.“ „Und das glauben sie dir?“, will ich ihn fragen, schlucke es aber runter.

Er zieht sich die Mütze zurecht, die gut gesessen hat und dreht sich zu ihr. „Du kennst die Regeln. Ich wecke dich zeitig und bringe dich dann zum Tor“, informiert er mich. Meine Beine werden plötzlich weich und die Erkenntnis trifft mich jetzt wie ein Donner. Ich habe den Test bestanden, bin nachvollziehbar bedürftig, habe es vermutlich als Letzte bemerkt. Mit einem Ruck stehe ich auf, aber er hält mich fest. Sein Blick ist nicht auf mich gerichtet, sondern zur Decke. Er dreht sich, tastet sich zwei Schritte vor, dann wieder zurück, hebt den behandschuhten Zeigefinger senkrecht vor den Mund. Für einen Augenblick Moment umfängt uns perfekte Stille. Dann durchschneidet das Kreischen einer Sirene die Nacht. Er zieht mich nach vorne, wir laufen los, ins finstere Nichts der Halle, ohne Ziel. Er wird schon wissen wohin, denke ich, beginne zu keuchen. Mein Rucksack bremst mich, gleichzeitig zieht er an meinem Arm, wie an einem Tau. Die Dunkelheit beruhigt mich, ist Schutz und Hoffnung zugleich. Plötzlich bremst er ab, dreht sich um, packt mich an den Hüften und wirft mich durch die Luft. Ich lande auf einer unebenen Fläche und versinke. Er überschüttet mich mit leichten Plastikteilchen. Dann wühlt er sich selbst in die nachgebende Masse. Ich spüre das Adrenalin in meinem Körper, würde dem Druck gerne nachgeben und schreien.

Dann wird mir klar, wir sind im Bällebecken der Kinderbetreuung, nah am Eingang. Das Licht wird angeschaltet, das Plastik schimmert bunt, was das Versteck fröhlich macht. Stimmen und Schritte ertönen und entfernen sich wieder. Unsere Deckung ist genial, Kinder werden sie hier nachts nicht vermuten. Mein Atem beruhigt sich langsam, aber wer hat den Alarm ausgelöst? Waren wir nicht allein? Wie oft ist ihm das schon passiert? Ich muss ihn das fragen, flüstern, aber es ist zu riskant. Dann wieder Schritte, unaufgeregt. Vielleicht ein Fehlalarm. Weitere stille Minuten bis schließlich das Licht erlischt, die Welt zurückfällt in dunkle Schattierungen. Noch einen Moment verhalte ich mich still, dann rappele ich mich langsam auf und stelle fest, ich bin allein. Auch mit der Taschenlampe kann ich ihn nicht finden. Er ist spurlos verschwunden, wie ein Geist.

5 Uhr 30 Tor 3, denke ich, unsicher, wie lange ich schon hier bin und wie viel Zeit mir noch bleibt. Langsam gehe ich zurück durch die Wohn- und Schlafzimmer, Bäder und Küchen, die alle ein Versprechen formulieren, das Zuhause heißt. Ich halte Ausschau nach einem Plätzchen, nicht das zugewiesene, sondern etwas Bequemeres, schickeres, das mich für eine Nacht auffängt. Stumm wippt mein Handy beim Gehen in der Jackentasche. Ob ich ihn noch mal sehen werde, frage ich mich, den barmherzigen Nachtgeist, dessen Geschichte ich nicht kenne. Dann mache ich noch eine Runde durch die dunklen Gänge, nehme eine blaue Plastiktasche vom Haken, und sammle ein, was mit gefällt oder ich irgendwann brauchen könnte, heute Nacht oder später, beim Tüfteln am Experiment Leben.