Haustiere
Ich liege auf dem Rasen und schaue nach oben, vorbei an den Ästen der Lerche zu den flatternden Vögeln, bis ganz hinauf zu den Wolken am Himmel. Es sind die einzigen Zeugen unseres Kampfes, sie können aber nicht sprechen. Im hinteren Teil des Gartens ist die Bestie verschwunden, hat von mir abgelassen, wie von einem faulen Stück Fleisch. Sie ist noch in Reichweite, mein Herz pocht, als wollte es den Brustkorb öffnen, vollenden, was das Tier nicht geschafft hat. Ich zwinkere, um im Kopf klar zu werden, habe aber nicht geträumt. Langsam schaue ich mich um, bevor ich meinen Körper inspiziere.
Beide Arme haben tiefe Bissspuren, fühlen sich merkwürdig entfernt an. Am Hals spüre ich eine sickernde Wunde, die mein Hemd vorne rötlich verfärbt hat und es wie ein Lätzchen aussehen läßt. Auf die Ellenbogen gestützt, richtete ich mich mühsam auf und schaue am Körper hinab zu den Beinen. Die Hose ist zerfetzt, die Beine unregelmäßig aufgeschlitzt. Rohes Fleisch ist zum Vorschein gekommen, das ich unter meinem hellen Haut immer vermutet, aber noch nie gesehen habe. Das Adrenalin betäubt den Schmerz, nur an den Wunden spüre ich einen leichten Druck.
Vera und die Kinder sind für das Wochenende zur Oma gefahren. Ihre Abwesenheit hat mich in Gefahr gebracht. Die Gewohnheiten des Alltags, ihre betäubende und beruhigende Wirkung, sind verschwunden. All die Tage mit der Familie, in der Gemeinschaft, im Durcheinander und der Hund immer mit dabei. Durch die wild gewachsenen Büsche und Sträucher kam er eines Tages angepirscht, gehört zur Nachbarschaft, so wie wir. Nie war ich mit ihm allein. Die Kinder nahmen ihn in den Arm, kraulten und küßten ihn. Jagten ihn mit Stöcken und Bällen durch den Garten, zogen ihn am Schwanz und spritzten ihn naß. Und nicht ein einziges Mal hat er geknurrt oder gebellt.
Ich brauche Hilfe, wird mir klar, aber werden die Helfenden nicht immer weniger? Die Notaufnahmen sind überfüllt, die Straßen verstopft, der Rettungsdienst unterbesetzt. Ich versuche abzuschätzen, ob ich es bis ins Bad schaffen werde. Dafür muss ich durch den ebenerdigen Anbau, einige Treppenstufen hoch über den Dielenboden der Küche und dann rechts in das kleine Bad im Erdgeschoss. Die Hausapotheke befindet sich im großen Badezimmer im ersten Stock, aber der Weg ist zu weit, die Sauerei, die ich anrichten würde, nicht auszudenken. Langsam ziehe ich mich über den Rasen, bis die Stimme von Tom, dem Nachbarjungen, mich erreicht. Durch die Hecke fragt er, ob ich seine Katze bei uns im Garten gesehen habe. „Nein, sie ist nicht hier“, antworte ich zügig, bevor sich Zweifel bei ihm festsetzt. Meinen Anblick will ich ihm ersparen, die heile kindliche Welt an diesem Nachmittag nicht zerstören.
Am Vormittag habe ich in der Kanzlei einen neuen Kollegen eingearbeitet. Ein Mann für die großen Fälle, so wurde er uns vorgestellt. Er ist jünger als ich, schlanker, neugierig, seine Zeugnisse exzellent. Auf einem Rundgang durch die Abteilung stellte ich ihn vor, was mir vorkam, wie meine eigene Abschiedstour. Die Mitarbeiter schauten ihn hoffnungsvoll, mich mitleidig, an. Später saßen wir uns am Schreibtisch gegenüber, sind Aufgaben und Fälle durchgegangen, die wir zusammen bearbeiten werden. Ständig schrieb er auf Notizzettel, stellte Fragen, machte Vorschläge. Versicherungsrecht als Leidenschaft. Er ist ungebunden, hergezogen, in eine Wohngemeinschaft, übergangsweise. In Ruhe will er sich umschauen, bis er das richtige findet, eine Wohnung oder ein kleines Haus, sagte er und blickte an mir vorbei, wie an einem Stück Inventar.
Kriechend setze ich meinen Weg fort, vorbei an verwelkten Geranien, Spielfeldmarkierungen aus Kreide, einem trockenen Saugnapfpfeil. Ich erreiche die Plastikpoolwand, die von unten betrachtet mächtig wirkt, dann die Filteranlage und Wärmepumpe, die technische Seite des Badespaßes. Im Sommer bauen wir den Pool auf, im Winter lagern wir ihn ein. Dieses Jahr haben wir ihn von Süß- auf Salzwasser umgestellt, was die Reinigung erleichtert. Im Verhältnis zu unserem Grundstück ist er riesig, Verschwendung, Luxus. Im letzten Jahr habe ich mich in einer Sommernacht mit ihm arrangiert. Spät nachts kam ich aus der Kanzlei nach Hause, stand allein im Garten, genoss die Dunkelheit, hörte das beruhigende Summen der Reinigungsanlage. Stundenlanges Aktenstudium hatte mich erschöpft und frustriert. Noch bevor ich mich auszog, spürte ich das erfrischende Wasser auf meiner Haut, wusste, das es mich von diesem Tag erlösen würde. In Rückenlage schloß ich die Augen, entspannte die Muskeln und trieb wie ein Schiffbrüchiger auf weitem Meer.
Wir wohnen nahe am Bahnhof, fußläufig zur Innenstadt, Mischbebauung. Hier fehlt die Langsamkeit der Vorstadt, die Scheinheiligkeit von Neubaugebieten, die Einfamilienhäuser, die einander gleichen und in denen jede Familie scheinbar dasselbe Leben führt. In der Stadt gibt es mehr Ablenkung, viele Menschen, hektisches Treiben, größere Anonymität. Die nachbarschaftliche Solidarität ist hart erkämpft, man lebt unbeobachteter, trotz des engen Raumes. Und doch, scheint mir, existieren hinter den Fassaden auch hier unzählige Geheimnisse, die wir nicht kennen und die niemand uns anvertraut. Streitereien hinter Doppelverglasung, Affären an tristen Vormittagen, amtliche Einschreiben in einbruchssicheren Briefkästen.
Das Plätschern des Poolwassers läßt mich innehalten. Ich könnte versuchen, in den Pool zu steigen, das salzhaltige Wasser würde den Wunden gut tun. Der Spätsommer hat nur wenige warme Tage, später würde ich ihn abbauen, das schmutzige Wasser vorher über einen Schlauch in die Beete ablassen. Wundsekrete als Dünger für den eigenen Garten. Im Besten Fall gäbe es nächstes Jahr weniger Unkraut. Ich schleppe mich zur Treppe, die über den Rand des Beckens den Einstieg ermöglicht. Das Ziel vor Augen ziehe ich mich am Geländer nach oben. Es geht besser als ich dachte, berühre mit den Fingern das Wasser, das nicht zu warm und nicht zu kalt ist, von Vera sorgsam täglich kontrolliert wird.
Bevor ich in den Pool steige, zögere ich. Meine Hände sind feucht, meine Brust wird eng. Schon höre ich dumpfes Getrampel auf dem Rasen, das lauter wird, näher kommt. Aus halber Höhe starre ich in den Garten, dorthin, wo ich gelegen habe. Mit aufgerissenem Maul und irrem Blick hat er die Fährte erneut aufgenommen, rast auf mich zu, ich ziehe ihn magisch an. Nur wenige Meter trennen uns, mich vom nächsten Biss, ihn von der Befriedigung seines Triebes. Mit kräftigen Hinterläufen setzt er zum Sprung an, ich hebe abwehrend den Arm, dann stürzen wir verkeilt über den Beckenrand ins Wasser. Bläschen hüllen uns ein, trüben die Sicht, dämpfen die Sinne. Ein Zerren am rechten Arm, strampelnde Läufe, ich muss ihn unten halten. Ich greife, was ich zu fassen kriege, versuche ihn von meinem Hals wegzudrücken. Durch hektische Bewegungen tauchen wir kurz auf. Stinkender Atem schlägt mir entgegen, er erwischt mich im Gesicht. Fest umklammere ich seinen Körper, wie die Kinder ein Kuscheltier, ziehe ihn unnachgiebig nach unten. Dann, nach unbestimmter Zeit, das Wasser macht alles langsamer, wird der Widerstand schwächer, die Luftblasen weniger. Das Wasser ist trübe, ich steige auf, die Hinterbeine überkreuz noch in der Händen.
Der leblose Körper treibt vor mir, ich atme langsamer. Die Farbe des Wassers verrät den Kampf, die Spuren sind noch verborgen. Clogs klackern die Treppe zur Haustür hinauf, die seitlich zur Straße liegt. Die Klingel ertönt. Einmal. Zweimal. Dann vernehme ich die fröhliche Stimme von Elena: „Ist niemand zu Hause?“ Äpfel wollte sie uns diese Woche bringen, aus dem kleinen Obstgarten, der sie mit Stolz erfüllt. Die Frohnatur unserer Nachbarin spüre ich bis ins schmierige Poolwasser. Gleich wird sie mit resolutem Schritt um das Haus herumgehen, die Gartentür öffnen und nach dem Rechten sehen. Ich halte die Luft an. Wie kann ich ihr das Blutbad erklären? Sie mag Tiere, ist gegen jegliche Form von Gewalt, Vegetarierin. Der Anblick wäre für sie schwer zu ertragen. Wie soll ich ihr erklären, dass ich den Liebling aller Kinder ersäuft habe. Das er mich angegriffen hat, ich ihm ausgeliefert war, ich in Notwehr um mein Leben gekämpft habe. Würde sie meine Sicht der Dinge glauben oder ein schwacher Zweifel in ihr aufkommen? Daß ich den Hund provoziert, seinen natürlichen Jagdinstinkt geweckt habe, der sich dann als reiner Selbsterhaltungstrieb gegen mich gewendet hat.
Die Schritte entfernen sich wieder, ich verhalte mich noch ruhig, sicher bringt sie auch den anderen Nachbarn Obst. Der Pool steht auf einem hölzernen Podest, um den Rasen zu schützen. Ich greife an den Rand, hebe den Kopf und schaue unsicher in den Garten, als würden dort weitere Gefahren lauern. Neben dem Anbau, wenige Meter vom Pool, steht mein Aktenkoffer und verkörpert den Alltag. Bei meiner Ankunft hatte ich einige Dokumente auf den kleinen Gartentisch neben den Anbau gelegt. Eine kleine Verschnaufpause, dachte ich, danach die Papiere durcharbeiten und jeden aufgeklebten Notizzettel meines Kollegen ignorieren. Ein Gefühl erschöpfter Zufriedenheit ergreift mich. Mit bloßer Muskelkraft und ohne Argumente gewonnen zu haben. Den Besitzer des Hundes kenne ich nicht, doch ich befürchte, im immer gleichen Kreislauf gefangen zu sein. Ein Rechtsfall wird folgen, Aktenkoffer, darin Dokumente.
Plötzlich erklingt eine Melodie, sorglos gepfiffen. Der Mitarbeiter eines Paketdienstes durchschreitet selbstbewußt unseren Garten, auf dem Arm getürmte Pakete unterschiedlicher Größe. Am Gartenschuppen angekommen, balanciert er die Last, öffnet routiniert die Tür. Der Aufdruck eines Paketes verrät die monatliche Windellieferung für unseren Kleinsten. Die könnte ich als Kompressen nutzen, um die Wunden zu stillen. Nach dem er die Pakete verstaut hat, schreitet er zum Pool. Ich ziehe den Kopf ein, das Wasser beginnt schon zu stinken, aber verstecken ist sinnlos. Er hält mir ein Klemmbrett über die Poolrand und sagt mechanisch: „Der Empfang einer Sendung muß bestätigt werden“. Ich erhebe mich und greife gewissenhaft nach dem Stift. Während ich firmiere, schaut er mich gebannt an, ohne Regung im Gesicht, nimmt das Elend um mich herum nicht wahr. Ein Muster an Pflichtbewusstsein oder Ignoranz. Dann wünscht er mir einen schönen Tag und geht und es ist genau das, wonach ich mich sehne.
Die Blätter in den Bäumen beginnen sich zu bewegen, fallen aber noch nicht hinab. Ein kräftiger Windstoß wirbelt einige Dokumente vom Gartentisch, trägt sie in meine Richtung. Sie schweben, taumeln, fallen wie Blattlaub einzeln zu mir in den Pool. Ein Zucken durchfährt mich, ich sollte sie auffangen, vor der Zerstörung retten. Auf dem Rücken liegend, beobachte ich, wie sie federleicht segeln und auf dem Wasser beliebig landen, das schwarze Fell kontrastieren. Dann schaue ich zum großen Wohnzimmerfenster im ersten Stock, an dem die Kinder oft stehen, bevor sie zu Bett gehen, mit Schlafanzügen und träumendem Blick, den sonnigen Tag im Garten nochmal vorbeiziehen lassen. Die Scheibe reflektiert das warme Licht und plötzlich bin ich mir unsicher, ob von dort oben nicht ein paar Augen auf mich schauen, erwartungsvoll und enttäuscht, mit einer Spur Unverständnis über den Vater, der mit seinen Akten und einem toten Hund im Poolwasser treibt, als wäre nichts geschehen.