Klare Verhältnisse

 
 
 
 
 
 

Er steht mit dem Rücken zur Wand im Hausflur und spürt die kleinen Haken der Garderobe wie Stiche auf seiner Haut. Kurz nach dem Einzug hatte er sie angebracht für farbenfrohe Jäckchen und kleine Taschen mit Tiergesichtern. Die abgewetzte Arbeitstasche in seiner rechten Hand ist immer noch die selbe wie damals. Er läßt sie los, was zu einem dumpfen Schlag auf dem glänzenden Parkett führt. Danach umfängt ihn die dichte Stille eines Eigenheimes, das für die Zukunft gebaut wurde und der Vergangenheit angehört.

Die Wohnungstür war doppelt abgeschlossen, sie ist nicht zuhause. Beim Gang durch die Wohnung, er hat die Schuhe nicht ausgezogen, inspiziert er aufmerksam das Inventar. Noch bei der Abreise bildete es die aufgeräumte Fassade ihres gemeinsamen Lebenstraumes. Aus dem Flur tritt er in das Esszimmer mit offener Küche. Abgestandene Luft schlägt ihm entgegen, ein Geruch nach Essensresten und nicht gespültem Geschirr. Benutzte Teller, eine Pfanne und mehrer Töpfe stehen verloren auf dem Tresen. Davor liegen Schneidewerkzeuge mit den Klingen in seine Richtung zeigend. Gar nicht ihre Art.

Im Wohnzimmer angekommen fällt sein Blick sofort auf das Wirrwarr in der fensterlosen Ecke. Dort verbringt er die Abende auf einem drehbaren Sessel aus Büffelleder. An der Wand rechts davon befindet sich ein offenes Sideboard mit Stereoanlage und hochwertigem Plattenspieler. Als Kompromiss für die abendliche Zweisamkeit, genießt er dessen Akustik für gewöhnlich über Kopfhörer mit Umgebungslärmunterdrückung. Links davon befindet sich ein wandfüllendes Regal. Auf einer Seite ist es mit unzähligen Schallplatten bestückt, zur anderen mit hunderten nach Farbe sortierter Bücher, die sich gegenüberstehen, als hätten sie nicht füreinander übrig.

Einige Platten und Hüllen liegen auf dem Boden und dem Sofa verstreut. Er nimmt eine Schallplatte behutsam auf und sieht das sie zerkratzt ist. Auf der Abdeckung des Plattenspielers liegt eine in der Mitte zerbrochene Sonderedition aus rosa Vinyl. Er hatte das Exemplar lange gesucht und schließlich in einem Vorort von London erworben. So macht man reinen Tisch, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat, denkt er. Beim Befingern der Bruchkanten, sie fühlen sich merkwürdig stumpf an, steigt eine bisher ungekannte Wut in ihm auf. Seine Muskeln fangen unwillkürlich an zu zucken als wären sie einer elektrischen Spannung ausgesetzt. Er muss sich bewegen, läßt das jetzt wertlose Plastik fallen, atmet tief ein und stürzt wie ein tollwütiges Tier durch die Wohnung. Mit unkontrollierter Wucht schlägt er gegen alle Gegenstände, die in seine Reichweite kommen, tritt Türen auf und reibt sich an Wänden, als wolle er sich eines alten Fells entledigen.

Ein ebenerdiger Bungalow wäre ihm lieber gewesen, aber die Raumplanungsordnung schrieb eine zweigeschossige Bebauung vor. Als er die Treppenstufen ins Obergeschoß mit einem kraftvollen Doppelschritt nimmt, spielt dies zum ersten Mal keine Rolle mehr. Vor ihm erstreckt sich das auf die normierten Wünsche junger Familien konzipierte Obergeschoss. Zwei Kinderzimmer, ein großes Bad, ein Schlafzimmer für die Eltern. Das Durcheinander im Flur fällt ihm zunächst nicht auf, allerdings sind die Türen zu den Kinderzimmern angelehnt. Sie hatten sich angewöhnt, sie geschlossen zu halten, um die Trostlosigkeit ihres Leerstandes zu verstecken. Im lichtdurchfluteten Badezimmer liegen Handtücher und Toilettenpapier auf dem Boden verteilt, ein roter Ärmel hängt hilfesuchend aus einem überfüllten Wäschekorb. Er hastet durch die Tür am Ende des Flures ins Schlafzimmer. Kleidungsstücke sind auf dem Fußboden und dem zerzausten Bett ausgebreitet. Der begehbare Kleiderschrank steht offen, Schubladen sind geöffnet, als hätte jemand in Eile das wichtigste zusammengesucht ohne sich um das zurücklassene Chaos zu kümmern. Im Durcheinander erkennt er jetzt klare Verhältnisse.

Warum kein Kindergeschrei die Wohnung erfüllt, ist nicht abschließend geklärt. Vor vielen Jahren haben sie sich nichts sehnlicher gewünscht als eine Familie. Eine medizinische Untersuchung hatte sie abgelehnt. Ein impotenter Hengst, eine unfruchtbare Schnitte, sie wollte es nicht wissen. Für einige Jahre fügten sie sich dem Schicksal. Irgendwann würden sie schon Eltern werden, ganz ohne Zwang. Sie entwickelte eine Leidenschaft fürs Kochen, bereitete Gerichte entfernter Länder mit exotischen Zutaten zu, vernebelte ihre Sinne mit andersartigem. Er begrub seine Sehnsucht in Hobbies, der Musik, dem Ausdauersport, der Literatur. Über die Jahre haben sie sich eingeredet, sie könnten auch ohne Kinder glücklich sein, es irgendwann einfach vergessen. Das hat für sie funktioniert, für ihn blieb es in jedem Moment, in allen Entscheidungen, in jedem Gegenstand ihres Besitzes als Vermächtnis der Unvollständigkeit erhalten. Das sie seinem Leiden jetzt ein Ende setzt, erscheint ihm paradox.

Mit der Unnachgiebigkeit eines Gabelstaplers fahren seine Arme wie Zinken in ihren Kleiderschrank. Dort bewegt er eine träge Masse aus trostlos hängenden Kostümen hin und her bevor er sie mit einem Ruck von den hölzernen Schulterattrappen reißt. Sofort fällt ihm ein bunt geblümtes Designerkleid Kleid auf, das wie ein derangiertes Gesteck vor seinen Füßen zum Liegen kommt. Er greift es und läuft in die Küche, wo er den Inhalt der Besteckschublade auf der Suche nach einer Schere scheppernd durchforstet. Merkwürdig beglückt hält er sie schliesslich in die Höhe als würde eine göttliche Fügung seine bevorstehende Tat rechtfertigen, sogar nötig machen. Die Melodie seiner zerbrochenen Sonderedition summend, setzt er die Schere langsam am Ausschnitt an und führt durch leichten aber bestimmten Druck die beiden Schnittflächen zueinander. Erst denkt er dabei an ihre Hochzeitstorte, dann an die ständigen Mäkeleien seiner Schwiegermutter, für die er nie gut genug war, und schliesslich an den Ehevertrag, der mühsam verhandelt erste Zweifel am gemeinsamen Glück näherte. Beim ziellosen Wandeln durch das Untergeschoss rieseln die Stofffetzen wie Blüten auf den Boden.

Erst jetzt bemerkt er, dass im Wohnzimmer der Fernseher läuft. Eine Tischtennisplatte wird in der Aufsicht von oben gezeigt. An den entgegensetzten Enden bewegen sich zwei Spieler mit unterschiedlich farbigen Trikots, um mühevoll den kleinen weißen Ball zu erreichen. Klick, klack, klick, klack. Dazwischen das Quietschen der Turnschuhe auf dem Hallenboden. Da beide immer wieder das gleiche tun, ergibt sich vordergründig eine gewisse Verbundenheit und Eintracht. Sie stehen sich gegenüber ohne Geheimnisse, mit offenem Visier, zeigen ihre Stärken, offenbaren ihre Schwächen. Sein Starren auf den Bildschirm läßt die Konturen des Spiels verschwimmen. Die Kameraperspektive verändert sich, zoomt heraus, sodass die Spieler und die Platte zwischen ihnen kleiner werden. Langsam erscheint im Rücken des unteren Spielers eine weitere Spielfläche. Er nimmt es jetzt mit zwei Gegnern auf, dreht sich dafür nach jedem Schlag herum, wird immer schneller in seinen Bewegungen, um die Bälle aus entgegengesetzten Richtungen zu erreichen. Dafür braucht er die doppelte Kraftanstrengung und Geschwindigkeit, wird hektisch und getrieben, erschöpft sich und verliert.

Sein Doppelspiel dauerte ein Jahr. Er fühlte sich von einer Kollegin angezogen. Der berufliche Aufstieg ging mit längeren Abwesenheiten einher. Am Anfang war es eine Ablenkung, dann eine Zuflucht, schließlich die bessere Version seines Lebens. Das eine ließ er nicht vollständig los, das andere festigte den Griff. In der dunklen Wohnung ergibt sich nun die Erkenntnis, das beides zusammen nicht funktioniert. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, in doppelter Hinsicht. Die Affäre ist beendet, seine Ehe zerbrochen. Wie sie dahinter gekommen ist, spielt keine Rolle mehr.

Im Büro schauen ihn die mit Papier und Akten überfüllten Schreibtische aus zwei weißen Aussparungen der furnierten Oberfläche traurig an. Hier stehen normalerweise ihre Laptops, die Arbeitsfläche als Bindeglied zwischen der analogen und digitalen Welt. Seinen Computer hatte er auf der Dienstreise bei sich, ihren hat sie anscheinend mitgenommen. Die Fotowand mit zahlreichen Bildern ihrer gemeinsamen Jahre ist zerstört. Einzelne Bilderrahmen liegen zerbrochen auf dem Boden, die Fotos sind zerknittert. Das großformatige Bild ihres Hochzeitstages findet er nicht, vielleicht hat sie es mitgenommen oder es aus Verbitterung vernichtet.

Die Ankunft zuhause läßt jetzt etwas verspätet das gewohnte Verpflichtungsgefühl in ihm aufkommen. Er denkt an häuslichen Tätigkeiten, die er erledigen könnte. Das kleine Rasenstück müsste gemäht werden, Einkäufe noch erledigt, der tropfende Wasserhahn im Gästebad endlich repariert werden. Dann wird er sich plötzlich bewußt, das sein Alleinesein auch andere Möglichkeiten eröffnet. Er könnte Sport machen so lange er wollte, bei lauter Musik ein ausgiebiges Bad nehmen, James Joyce weiterlesen und endlich verstehen. Später würde er Freunde zum grillen einladen und dann mit ihnen durch die Nacht ziehen, sich tanzend verausgaben und hoffnungslos betrinken.

Ein Impuls führt ihn zurück in den Flur. Dort schaut er beiläufig in den Garderobenspiegel und sieht sich einer mit rotem Lippenstift auf Glas gemalten Fratze gegenüber. Sie scheint hämisch zu lächeln und erzeugt zusammen mit seinem grimmigen Gesichtsausdruck ein treffendes Abbild seiner Gefühlswelt. Diese Theatralik kannte er gar nicht an ihr. Er nimmt seinen Laptop aus der Tasche, fingert zielsicher über das Touchpad und sucht im nach Jahren und Monaten geordneten Fotoverzeichnis. Sein Herzschlag drückt kraftvoll Blutströme über pochende Gefäße in den Kopf. Das weiche Gewebe seiner Augäpfel wird zu hilflosen Resonanzkörpern, die diesen Druck rückseitig auf Kosten eines stechenden Schmerzes auffangen. Er sucht nach ihrem Hochzeitsbild, hat es noch gut in Erinnerung, will es noch einmal sehen, unter geänderten Voraussetzungen neu entscheiden, was er damit macht.

Im Schatten einer Eiche lächeln sie beide glücklich und zuversichtlich in die Zukunft. Er sendet das Bild an den Fotodrucker, der durch ein aufgeschrecktes Rattern erwacht und eine unvollständige Kopie seiner Erinnerung materialisiert. Die Tinte ist noch nicht getrocknet, als er spürt, das der Anblick des Bildes, die zur Schau getragene Glückseligkeit unerträglich wird. Die Dissonanz zwischen Wünschen und Träumen eines verliebten Paares und der zermürbenden Realität ihres Unglücklichseins ist erschütternd. Er muss sich von diesem Bild lösen, die Erinnerung auslöschen, hier und jetzt.

In der linken Hosentasche das mit einer Gravur veredelte Feuerzeug. Mit einer gekonnten Handbewegung schnappt er es auf und zündet eine von verbissen zusammengedrückten Lippen gehaltene Zigarette am anderen Ende an. Dann läßt er die Flamme zum frisch ausgedruckten Relikt ihrer Lebensbündnisses wandern. Als es zur Hälfte verbrannt ist, kleine Aschefetzen schweben bereits zu Boden, läßt er das Bild auf den kamelbeigen Langfloorteppich fallen, der nie in dieses Arbeitszimmer passte und jetzt die Quittung dafür bekommt. Sein um Erlösung ersuchender Blick nach oben entdeckt noch rechtzeitig den Brandmelder. Hektisch und gleichzeitig widerwillig tritt er die Feuerstelle aus, läßt sein Werk unvollendet.

Mit der Absicht, sich eine hochprozentige Belohnung zu genehmigen, geht er ins Wohnzimmer. Die Verandatür steht einen Spalt offen und ein Luftzug erreicht seine verschwitzte Haut. Warum hat sie die Wohnung nicht durch die Haustür verlassen, fragt er sich. An der Wand mit dem riesigen Flachbildschirm steht ein Vitrinenschrank in der Ecke. Er öffnet die Glastür und greift schwungvoll die auf einem Sockel stehende Whiskyflasche. Den abgedrehten Verschluss schießt er mit dem linken Fuß in hohem Bogen über den Couchtisch.

In diesem Moment hört er das mechanische Geräusch eines Türschlosses. Er setzt sich mit der Flasche in der Hand langsam auf den Boden und blickt wie ein Dackel zur Tür. Dort erscheint zunächst ein Rollkoffer und dann ihr abgespanntes Gesicht, das offenkundig überrascht ist, ihn hier anzutreffen. Ihr sportliches Outfit verrät, sie war bei ihren Eltern. Seit einigen Monaten unterstützt sie regelmäßig ihren Vater bei der Versorgung der gebrechlichen Mutter. Sie schiebt sich in den Flur und hängt ihre Handtasche auf. Dann kommt sie ins Wohnzimmer und begutachtet das Durcheinander. Alles in Ordnung, fragt sie vorsichtig, wobei ihre Augen unruhig die Umgebung erkunden und ihr Entsetzen verraten.

Sein schlechtes Gewissen hat ihr dieses Infernal zugetraut. Er setzt sich auf und nimmt noch einen kraftvollen Schluck aus der Flasche. Dann läßt er sie fallen und begibt sich, ohne ein Wort zu sagen, in das Obergeschoss. Ein dumpfes Rumpeln ertönt von oben gefolgt von einer schnellen Schrittfolge. Nach kurzer Zeit erscheint er am Fuße der Treppe, die Schwere eines gepackten Reisekoffers schräg ausbalancierend. Ihr kleiner Koffer steht unverändert im Hausflur und zusammen entsteht der flüchtige Eindruck einer gemeinsamen Urlaubsreise, auf die sich die Teilnehmer offensichtlich nicht freuen.

Sein Gesicht leuchtet entschlossen und apathisch, als leiste er einer Erkenntnis Folge, die sich über Jahre einen Weg durch ihr gemeinsames Leben gebahnt hat, heute aber erst die Oberfläche erreicht. Er ignoriert die Frage, wie es so weit kommen konnte. Sein Blick ruckelt über das Durcheinander vor ihm und verfängt sich ein letztes Mal in seiner Plattensammlung. Ein kurzer Impuls sie zu retten durchzuckt ihn. Dann wünscht er sich eine Aussprache, sucht nach Wörtern für eine Entschuldigung. Die Polizei müsste gerufen, eine Liste entwendeter Gegenstände erstellt, die Versicherung verständigt werden. Wofür, fragt er sich, und muss an den Schließzylinder der Haustür mit der höchsten Sicherheitsstufe denken. Er legt den Wohnungsschlüssel auf den Rand des Sideboards. Die Reduktion seines Besitzes auf einen Koffer, hat eine befreiende Wirkung, schüttelt all die Missverständnisse für einen Augenblick ab. Auf dem kurzen Weg zur Tür überkommt ihn ein unbeschreibliche Sorglosigkeit, die er so noch nie erlebt hat - nachdem er die Tür geschlossen hat, ein stechendes Schuldgefühl, das für unbestimmte Zeit anhalten wird.