Die Fliegenden
Jonas, der Träumer, so nennen ihn Freunde und Verwandte, steht im Bademantel vor der Tür und wartet auf Erlösung. Das harsche Frottee des Bademantels kratzt, der weiße Gürtel baumelt zwischen seinen Beinen. In der Hand hält er ein kleines ungewöhnlich leichtes Paket. Es haftet an seiner Haut, ist mit ihm verbunden, gehört ihm aber nicht. Er hat die Sendung vor einigen Tagen angenommen und würde sie gerne los werden, aber niemand will sie haben.
Der Abtreter, vor dem er steht, begrüßt ihn wenig einladend mit einem „Hello“ vorne rechts und einem auf dem Kopf stehenden „Bye“ hinten links. Die Klingel ist eine rote Spitze, die wie ein Warnung aussieht. Vielleicht ist nur der Knopf abgefallen und hat den dahinter liegenden Stift sichtbar gemacht. Beim ersten Zustellversuch hat er die Spitze mit dem Zeigefinger neugierig berührt und einen Stich bemerkt. Ein Blutstropfen erscheinte auf seiner Fingerkuppe, schaute ihn besserwisserisch an, ohne das die Klingel ertönte.
Sieben Monate wohnt er in diesem Haus und kennt keinen Menschen. Die Namen auf den Postkästen sagen ihm nichts. Nachts schläft Jonas schlecht, hört Geräusche aus anderen Wohnungen, die er sich nicht erklären kann. Zweimal hat er jemanden im Treppenhaus gesehen. Zunächst eine Frau aus der Entfernung, die Treppe schnell hinaufsteigend, gedankenverloren auf ihr Smartphone starrend. Ein anderes Mal, vermutlich ein Mann, das Gesicht verdeckt durch zwei übereinander getragene Umzugskartons. Ansonsten nur klackende Türen, Schritte im Treppenhaus, die tickende Zeitschaltuhr der Deckenbeleuchtung.
Der Vorname auf dem Paket ist durch ein A abgekürzt, der Nachname klingt südländisch. Der Absender ist ein Strichcode. "Paketverweigerer, Vielbeschäftigter, Reisender", sagt er vor sich hin. Er stellt das Paket auf die Fußmatte und dreht sich um. Zurück im Wohnzimmer watet er durch ein Meer aus Zetteln, die mit Schaltskizzen, physikalischen Formeln und Berechnungen gefüllt sind. Das Chaos der Anordnung wird ihrem logischen Inhalt nicht gerecht, offenbart eine menschliche Seite. Theoretische Grundlagen sind wichtig, sagt man, haben ihn aber noch nie interessiert. Das gewählte Studium ist eine Qual, nicht abgeschlossen, bevor es richtig begonnen wurde.
Jonas nimmt sein Smartphone zur Hand und entsperrt es mit ernstem Blick. Dann öffnet er nacheinander einige Apps, die Menschen verbinden sollen und gleichzeitig einsam machen. Mit kleinen roten Punkten teilen sie ihre Standorte der letzten 24 Stunden. Das Hochhaus, in dem er wohnt, ist mit diesen Flecken übersät. Hinter jeder Markierung ist ein Profil, das mit Bildern, Videos und Texten ein Dasein beschreibt. Posierende Gesichter, kuschelige Haustiere, romantische Sonnenuntergänge. Beim Scrollen durch die Bilder bleibt er bei einem gefiedertes Kostüm hängen. In diesem Profil findet er Aufnahmen, wie Federn an Stoffe und dann an ein Drahtgestell befestigt werden. Insgesamt hat das Profil mehr als hundert Bilder. Unterschiedliche Kostüme, die erst im Detail und dann angezogen präsentiert werden. Eine Frau, deren Gesicht durch eine Maske verdeckt ist, zeigt die aufwendigen Kleider am immer selben Ort. Mit ausgestreckten Flügelarmen steht sie in luftiger Höhe, im Hintergrund die unscharfe Silhouette einer Stadt, darüber blauer Himmel.
Zeit für die praktische Anwendung theoretischer Studieninhalte denkt Jonas, erweckt seine Spielkonsole und sinkt ins Sofa. Die befreundeten Mitspieler sind schon im Chat aktiv und tauschen Belanglosigkeiten aus. Zusammen durchforsten sie dunkle Welten, sammeln Gegenstände, bekämpfen Feinde. Gelöste Rätsel machen sie stärker, verbessern ihre Fähigkeiten, bringen sie auf höhere Stufen. Wie im richtigen Leben. Er bedient die Knöpfe und Hebel des Controllers in alle möglichen Richtungen, unglaublich schnell, scheinbar mühelos, verliert sich in einer anderen Welt. Seine Augen flackern, zeigen wie konzentriert und zielstrebig er sein kann.
Nach einigen Stunden kommt die Erschöpfung, begleitet von einem Gedanken. Der Nachbar hat das Paket vielleicht nicht erwartet. Es ist keine Bestellung, sondern eine Überraschung. Dass eine Absicht dahinter steht und er durch seine Bemühung unbewusst Teil eines Planes geworden ist. Kurz danach steht er wieder vor der Tür der Nachbarwohnung. Ein einäugiger Spion schaut ihn stumm an. Jonas nähert sich, ist nur wenige Zentimeter vom gewölbten Glas entfernt, sieht aber nichts. Oder schaut er in die dunkle Pupille eines aufmerksamen Augapfels, der starr auf ihn gerichtet ist? Mit dem Finger bedeckt er das Sichtloch, blickt sich um, hält den Atem an und horcht. Nichts. Dann nimmt er das Paket und geht und zurück in seine Wohnung.
Im Hochhaus wohnen hunderte Menschen. Obwohl sie im Alltag unsichtbar sind, hat jeder seine Geschichte, Fähigkeiten, Wünsche. Die vogelartigen Kostüme gehen ihm nicht aus dem Kopf. Sie sind kleine Kunstwerke, versteckt in einer dieser Wohnungen. Unmöglich, dass man mit ihnen fliegen kann. Andererseits, würde nicht die Höhe des Gebäudes zu einem Flug einladen? Wäre es nicht ein unbeschreibliches Glück mit ausgestreckten Armen über der Stadt zu schweben?
Mit einem Messer durchtrennt er das Paketband an der Stelle, wo die Kartondeckel zusammengehalten werden. Er öffnet es und und schaut auf das, was ihm nicht gehört und vom Nachbarn verweigert wird. Kleinste Papierschnipsel kommen zum Vorschein, aber nicht mehr. Ein Versehen oder Betrugsfall, denkt Jonas, oder eine Testsendung zur Ermittlung von Zustell- oder Umlaufzeiten. Er schüttet die Schnipsel und glättet sie. Einige haben Farben, andere sind schwarz und weiß. Er teilt sie danach ein und versucht ein Muster zu erkennen, ein Puzzle, das zusammengesetzt ein Bild oder eine Botschaft hervorbringen könnte.
Nach einigen Minuten wird ihm klar, sie passen nicht zusammen, sind wirklich nur Schnipsel. Durch das Wohnzimmerfenster schaut er nach draußen auf den Balkon. Sein Blick fällt auf die beiden Klappstühle und die zum Tisch improvisierte Holzkiste zwischen ihnen, dahinter das Geländer. Er wohnt im siebten Stockwerk und stellt sich unsicher auf die Holzkiste, dann richtet er die Smartphone Kamera zum Horizont aus. Im unteren Bildanteil stellt er das Geländer scharf, danach den Hintergrund und vergleicht es mit den Bildern der Kostümfrau. Die unscharfen Gebäude der Stadt sind dieselben.
Den Ton der Türglocke hört er zum ersten Mal, als sie klingelt. Langsam geht Jonas zum Flur, nähert sich der Tür. Gleich wird er ein Gesicht sehen, Augen werden ihn anschauen, er wird eine Stimme hören. Er widersteht dem Spion, wartet einen Augenblick, um sich zu beruhigen, hat immer noch den Bademantel an, was sich unpassend anfühlt. Jonas öffnet vorsichtig die Tür und sieht eine junge Frau. Im T-Shirt mit Flip-Flops, die Hände in einer weiten Jogginghose, steht sie da, ein Paket unter dem Arm. Sie hat eine hohe Stirn, ernste Augen und spricht ohne Umschweife. „Wurde bei mir abgegeben“. Sie händigt es aus, dreht sich um und verschwindet im dunklen Flur. „Danke“, stammelt Jonas hinterher, tritt zurück in seine Wohnung und bemerkt das geringe Gewicht der Sendung.
Auch er hat nichts bestellt. Jonas reißt das Paket ungeduldig auf und starrt abermals auf Schnipsel. Er schüttet sie aus, teilt auch sie auf, versucht sich erneut an einem imaginären Rätsel, hofft, dass es jetzt mehr Möglichkeiten für eine Lösung gibt. Nach wenigen Minuten erkennt er die Sinnlosigkeit seiner Bemühung. Vermutlich bekommen alle Hausbewohner eine derartige Sendung. Als Geste, dass jemand an sie denkt. Als Kampfansage gegen die Einsamkeit. Beim Anblick der beiden Kartons fühlt er sich plötzlich wie ein Versager. Das er der Versuchung nicht widerstehen konnte und sie zu nichts geführt hat. Andererseits, ist es das Paket ohne Wert und führt zu mildernden Umständen.
Bis in den Abend hinein denkt Jonas immer wieder an die mysteriösen Pakete. Vielleicht ist die Frau, die ihm das Paket gebracht hat, auch die Absenderin. Vielleicht ist sie die Kostümfrau, die ihre Sehnsucht nach Unbeschwertheit und Freiheit darin verpackt. Er könnte versuchen, sie zu finden, ihr von beiden Paketen berichten, schauen wie sie reagiert. Jonas geht nach draußen auf den Balkon. Auf beiden Seiten wird die Privatsphäre durch ein Milchglas beschützt und gleichzeitig die Kontaktaufnahme erschwert. Von oben kommt plötzlich ein flappendes Geräusch, dann erscheint ein Vogelschwarm, der über das Dach des Hochhauses fliegt. Für eine Sekunde zucken seine Daumen und Jonas denkt, er könne die Formation der Vögel fernsteuern und ihre Richtung ändern.
Dabei wird ihm klar, genauso wird sie es machen. Mit angezogenem Kostüm wird sie die Arme wie Schwingen ausbreiten, sich abstoßen und über die Stadt schweben. Sie steht auf den Fotos schon in Position, muss sich nur noch der Stadt zuwenden und einen letzten Schritt machen. Sie wird die Enge der Flure und Wohnungen zurücklassen, die Unbegrenztheit und Freiheit für einen Moment genießen. Sie wird der Einsamkeit entkommen und für alle in ihrem kunstvollem mit Hingabe gefertigtem Kostüm sichtbar sein.
„Vogelfrau, wo bist du?“, ruft Jonas über das Balkongeländer hinweg. Die Leichtigkeit der Pakete wischt die Schwermütigkeit des Hochhauses für einen Moment beiseite. Er beugt sich über den Balkon und schaut über die Häuser und Straßen, als wolle er sich vergewissern, dass sie ihren Flug noch nicht begonnen hat. Womöglich hat sie es schon geschafft, sich alles für einen Moment von oben angesehen und ist an einem sicheren Ort gelandet. Wahrscheinlicher ist, daß ihr Flug nur kurz gedauert hat, sie mit dem harten Bodenkontakt zu einem roten Fleck geworden ist, wie ein digital markierter Standort. In der Ferne hört er die Klingel der Wohnungstür, kann aber nicht sagen, ob es seine oder die eines Nachbarn ist. Dann ertönt die Sirene eines Krankenwagens, wie man sie so oft auf Balkonen von Hochhäusern einer Großstadt hört. Ein Gefühl der Leichtigkeit überkommt ihn, das Gebäude wird von seinem Gewicht befreit, die Bewohner von ihrer Last und alles hebt sich für einen Augenblick in die Lüfte.